Erinnerungen an Lauenbrunn von Kurt Schüttler


Das Leben nach der Vertreibung 

Nach dem letzten "Transport" im August 1947 war unser Lauenbrunn, wie alle schlesischen Dörfer, abgesehen von den Orten Oberschlesiens, von Deutschen geräumt. In ganz Oberschlesien durften die Menschen weiter wohnen. Die polnische Regierung rechnete damit, daß die katholische und polnisch sprechende Bevölkerung - die Oberschlesier waren als Grenzbewohner Zweisprachler - sich bald in den polnischen Staat integrieren und vom Deutschtum abwenden würde. Die Entwicklung hat bis heute das Gegenteil bewiesen. In unserem Dorf war nur die damals 19jährige Frieda Gumpert verblieben. 

Aus Kriegsgefangenschaft heimkehrende Soldaten, Kriegsdienstverpflichtete, Kinder und verschickte Mütter suchten sich überall im Bundesgebiet. Meist in einem einzigen Raum mit der gesamten Familie zusammengepfercht versuchten alle, schnell Arbeit zu finden und das neue Leben einigermaßen erträglich zu gestalten. Besonders die Alten und früher selbständigen Heimatfreunde litten unter den traurigen Verhältnissen. Anfangs glaubten viele, daß die Westalliierten die endgültige Vertreibung der Deutschen nicht zulassen würden, denn in Potsdam waren die Ostgebiete nur unter polnische Verwaltung gestellt worden. Keiner konnte und wollte glauben, daß unsere Sieger ebenso ungerecht sein könnten, wie es Hitler und sein Regime waren. Inzwischen mußten wir erfahren, daß 40 Jahre nach der Vertreibung noch kein Friedensvertrag geschlossen und die Kriegsniederlage des deutschen Volkes auf Dauer von den Siegermächten, wenn auch heute zum Teil von den Westmächten bedauert, zum Nachteil Deutschlands ausgenutzt wurde. 

Zu dem großen Heimweh der Heimatvertriebenen gesellte sich die materielle Not, denn es fehlte an allen Dingen des täglichen Lebensbedarfes. Die fremde Umgebung, der Mangel aller Verbindungen und teilweise auch der offene Widerstand der einheimischen Bevölkerung gegen die Fremdlinge, die zu der eigenen Not nun noch die Belastung mit den "Flüchtlingen" brachten, kennzeichnete die Lage der Vertriebenen und Flüchtlinge in dieser Zeit. 

Frau Trautmann schrieb in ihr Tagebuch: " ... Von Aurich aus wurden wir verteilt und kamen nach Holte am 27. April 1946. Wir wurden im Gasthaus Röben einquartiert und blieben dort drei Tage. Zum Mittagessen mußten wir immer zu zwei Personen in bestimmte Familien gehen. Hildegard und Ursel kamen im Dorf zu Bauern, und wir kamen ganz außerhalb an den Deich zu einem kleinen Bauern. Wir halfen beide in der Landwirtschaft und bekamen dafür das Essen und eine Stube mit zwei Bettstellen. Im Winter bekamen wir monatlich 48,50 RM für zwei Personen." 

So oder ähnlich ging es überall, und in den Westzonen brachte erst der 20. Juni 1948 mit der Währungsreform die Wende zur besseren Zeit. 

Die Einwohner Sackerau's und weitere Lauenbrunner wurden am 22. August 1946 vertrieben. Sie wurden nach Bielefeld gebracht. Mit diesen zwei großen Transporten waren die meisten Deutschen aus der Heimat entfernt. Im April und August 1947 mußten die letzten Familien das Dorf verlassen. Sie kamen in die damalige sowjetische Besatzungszone. Dabei waren auch viele Eisenbahner unserer Kleinbahn. 

In Hasbergen, einer Gemeinde von 1600 Einwohnern, wurden am 25. April 1946 ca. 200 Lauenbrunner vom Wohnungsamt des Landkreises Osnabrück untergebracht. Die Stadtrandgemeinde bestand damals aus einer Mischung von mittleren Landwirtschaftsbetrieben und privaten Ein- und Zweifamilienhäusern. Die nahe Entfernung nach Osnabrück, ca. 10 km, wirkte sich günstig auf die Arbeitsmarktlage aus, und kurz nach der Währungsreform begannen die Lauenbrunner neben den 700 Flüchtlingen aus anderen Vertreibungsgebieten mit viel Mühe und Fleiß den Neubeginn. Gerhard Instinsky als Flüchtlingsbetreuer und ich, seit 1947 in der Gemeindeverwaltung und danach ab 1950 als Gemeindedirektor, konnten dabei tatkräftige Hilfe leisten. Leider verunglückte Gerhard Instinsky 1952 tödlich an seinem Arbeitsplatz und hinterließ eine bleibende Lücke. Er war Mitglied des Gemeinderates, wie später auch die Heimatfreunde Walter Wersich, Paul Schwarzer und Dr. Wischhuesen. Sie halfen alle mit, Verständnis für die Lage und damit gewisse Verbesserungen für die Notsituation der Heimatvertriebenen zu erreichen. Das war beispielsweise wichtig bei der Bereitstellung von Baugelände. 

Einige Familien, die es nach Ostfriesland verschlagen hatte, siedelten Anfang der 1950er Jahre in den Osnabrücker Raum, und auch aus der DDR gelang einigen Heimatfreunden die Umsiedlung nach Hasbergen. 

Leider waren die Kontakte zu unseren Lauenbrunnern in der DDR äußerst gering, denn zu Heimattreffen durften sie nicht eingeladen werden, und das Thema Vertreibung ist ja bis heute für die DDR aus verständlichen Gründen tabu. 

1951 organisierten wir in Hasbergen das erste Heimattreffen der Lauenbrunner. Inzwischen sind es neun Treffen geworden, und am 30. Juli 1988 soll das zehnte stattfinden. Hasbergen wurde neben Bielefeld, dort hatten sich die Lauenbrunner um Richard Pietsch, Max Hellmann und Artur Kunert in der schlesischen Landsmannschaft zusammengefunden, zu einem Mittelpunkt der alten Heimatgemeinde. Erich Reich und Alfred Arglebe konnten wegen des vorgeschrittenen Alters nicht mehr in ihren Berufen tätig werden. Sie begannen bald mit der Aufstellung von Heimatverzeichnissen und als Efendi Herzog aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, fanden wir einen besonders tatkräftigen Helfer für die Erstellung eines Heimatarchivs, das nun seit vielen Jahren von mir geführt wird. Es hat schon in der Vergangenheit bei vielen Lastenausgleichsangelegenheiten und in Rentensachen gute Dienste geleistet. 

Lauenbrunner am Treffen bei der Gastwirtschaft Krämer-Wulff
Lauenbrunner am Treffen bei der Gastwirtschaft Krämer-Wulff

In gewissen Zeitabständen treffen sich die Lauenbrunner, die hier wohnen, zu geselligen Zusammenkünften. Mit Heimatliedern und Mundartvorträgen, meistens bei Kaffee und Kuchen, werden Berichte von Schlesienreisen ausgetauscht und alles die Heimat interessierende besprochen. 

Frau Marthel Instinsky geb. Keitsch betreut seit Jahrzehnten eine schlesische Frauengruppe, deren Stamm auch aus ehemaligen Lauenbrunnern besteht. 

Während viele Gemeinden unserer Heimat nach der Vertreibung engen Kontakt mit der heimatlichen Kirche und den Geistlichen hielten, ging diese Bindung bei uns ganz verloren. Ich hatte bereits vor dem ersten Heimattreffen mit Pastor Weichert, dem letzten Ortsgeistlichen Lauenbrunns, Verbindung aufgenommen, um einen Gottesdienst in Hasbergen zu halten. Er zog aber das Frankensteiner Heimatkreistreffen vor, und so brachen die Kontakte, die zwischen ihm und den Lauenbrunnern nie sehr eng waren, auf die Dauer ganz ab. Der aus Waldenburg stammende Pastor Dober hielt deshalb an unserem Heimattreffen den schlesischen Gottesdienst. 

Mehr als 50 ehemalige Lauenbrunner haben inzwischen in Hasbergen wieder Grund und Boden erworben und sich ein Haus gebaut. Natürlich auch an vielen anderen Orten des Bundesgebietes, besonders im Helmstedter Gebiet, im Bielefelder Raum, Ostfriesland, im Harz und im Allgäu sind viele Heimatfreunde nun wieder auf Dauer sesshaft geworden. 

Nicht wenige suchten einen neuen Anfang durch Auswanderung nach Übersee. Schon von Lauenbrunn aus hatten kurz nach dem Ersten Weltkrieg Angehörige der Familien Märsch, Herrmann und Wuttke den Sprung in die "Neue Welt" gewagt. Nun folgten die Verwandten nach. In den USA, Kanada und Australien leben jetzt schon Lauenbrunner und deren Nachkommen in der dritten und vierten Generation. Für sie wie für uns alle wird unsere alte Heimat bald nur noch Erinnerung sein.