Erinnerungen an Lauenbrunn von Kurt Schüttler


Der letzte Besitzer von Kobelau (geschrieben im August 1957) 

Am 24. Juli d. J. würde Mortimer von Tschirschky und Boegendorff 50 Jahre alt. Dieser Gedenktag soll der Anlass sein, einiges über sein Leben zu schreiben. Er wurde in Buchen, Kr. Wirsitz/Posen, geboren. Sein Vater bewirtschaftete zu der Zeit Güter seines Onkels. Der eigene Besitz war zu klein, um die heranwachsende Kinderschar - es waren acht - zu ernähren und ihnen die richtige Erziehung zu geben. 

Seine Kindheit war so schön, wie man es sich für einen Jungen auf dem Lande nur vorstellen kann. Schon von klein auf hatte er ein ausgesprochenes Verständnis für Landwirtschaft und einen Sinn für alles, was damit zusammenhing. So durfte er seinen Vater bei den Fahrten auf die Güter immer begleiten. Eine kleine Episode ist kennzeichnend. Er war 5 Jahre alt, als ein Kamerad seines älteren Bruders zu Besuch kam. Für Mortimer war es ein besonderes Ereignis, diesen Gast von der Bahn abholen zu können. In dem viersitzigen Jagdwagen saß er stolz auf dem Bock. Der Gast, der mit dem ihm unbekannten Jungen irgend ein Gespräch beginnen wollte, bewunderte den leuchtend roten Mohn und blaue Kornblumen in einem Feld. Ganz verächtlich meinte Mortimer:" Wie kann man so ein Unkraut schön finden." 

Bevor der Ernst des Lebens durch die Schule für ihn anfing, stromerte er sehr selbständig überall herum. Für das Kinderfräulein und seine ältere Schwester, die mitverantwortlich für ihn war, war es keine leichte Aufgabe, ihn zu hüten. Auf dem großen Hof war er im Pferde- oder Kuhstall oder mit seinen Tieren beschäftigt. Kaninchen und Tauben waren seine ersten Schützlinge, die er gewissenhaft pflegte und sich mit ihnen beschäftigte. Den Kaninchen gab er ganz absonderliche Namen, so z.B. nannte er eine Häsin "Frau Kardelsie". Einer unser Schweizer wird sich noch erinnern, daß Mortimer mal auf den Taubenmarkt fuhr, um eine neues Paar zu kaufen. Der Schweizer hatte selbst auch welche auf dem Markt und gab seinen guten Rat, welches Paar Mortimer kaufen sollte. Da er mit ihm gut befreundet war, hörte er auf ihn, und fuhr befriedigt mit seinen gekauften jungen Tauben heimwärts. Schon nach einigen Tagen nisteten die Tauben sich im Söller des Schweizers ein. Nur die Erwachsenen kannten solche Schliche - sein guter Rat bestand nämlich darin, Mortimer auf seine eigenen Tauben aufmerksam zu machen, die erklärlicherweise in ihren Heimatsöller zurückflogen. 

Als Mortimer sieben Jahre alt war, starb sein Vater. Im selben Jahr begann der Erste Weltkrieg und seine drei ältesten Brüder fielen. Sie opferten ihr Leben dem Vaterland, und die Mutter opferte ihre Söhne. 

Der Älteste: Bernhard, Kommandeur der Seeflieger, starb am 16.10.1918 in Genf an einer damals sehr heftig grassierenden Grippe. 

Der Zweite: Hans-Adam starb am 11.12.1914 im Lazarett in Prasnicz (Polen). Auf einer Patrouille erhielt er einen schweren Bauchschuß. Da sein Regiment (Dragoner 2) im Rückzug begriffen war, konnte er der schweren Verwundung wegen nicht mehr transportiert werden. 

Der Dritte: Ottfried, fuhr als kleiner Junge beim Rodeln mit aller Wucht gegen einen Baum. Eine Rückgratsverletzung war die Folge davon. Jahrelang krank und elend, war er eine Sorgenkind der Eltern. Kurz vor Beginn des Krieges war er wieder so weit gesund, -aber noch zart und schonungsbedürftig. Als Freiwilliger, erst 19jährig, trat er bei den Lübener Dargonern ein. Bald darauf fiel er 1916 in Ungarn bei Muncacz. Nach Ende des Krieges kehrte die Familie aus Buchen-Eberspark nach Kobelau zurück. Mortimer, damals 14 Jahre alt, kam zu Pastor Hein nach Siegroth, wo er mit anderen Jungen zusammen Privatstunden hatte und mit denen er auch konfirmiert wurde. Anschließend kam er auf eine landwirtschaftliche Schule nach Brieg und lernte noch auf anderen Gütern in Schlesien. Den Kinder- und Knabenjahren war er nun entwachsen. Da nahm ihn sein Onkel Stirum nach Eberspark. Er kam nun wieder dorthin zurück, wo er die glücklichen Kinderjahre verlebt hatte. Er war der einzige der großen Kinderschar, der dort geboren war. Eberspark war für ihn immer mit Heimatgefühlen verbunden. Er fühlte sich dort immer wohl, weil ihm von Kindheit an alles vertraut und bekannt war. Seine landwirtschaftlichen Kenntnisse konnte er bei dem dortigen Güterdirektor vervollkommnen. Schon nach kurzer Zeit gab ihm sein Onkel einen verantwortungsvollen Posten. 

Als seine Mutter ihm die Bewirtschaftung von Kobelau übergeben wollte, wurde es ihm sehr schwer, sich von Eberspark zu trennen. Er sah aber die Notwendigkeit ein, da sein älterer Bruder, der bisher die Leitung hatte, eine andere Tätigkeit übernahm. Auch der Gedanke, seiner Mutter, die er über alles liebte, zu helfen, war wohl mit ausschlaggebend. Ein großer Verlust für ihn in Kobelau war, daß bald nach seiner Übernahme der Schaffer Lindner starb. Er war wirklich die Seele des Hofes - zwei Generationen hatte er schon gedient. Die Pferde liebte er vor allen anderen Tieren. - Sein ganzer Stolz war, wenn ihm die Aufzucht der Fohlen gut glückte. Es war ein tragisches Geschick, daß er durch einen Hufschlag von einem Einjährigen sterben mußte. Seine Frau, die sogenannte "Schaffern" feierte erst vor ein paar Jahren ihren 80. Geburtstag in der Nähe von Schnaitsee/Bayern, wohin sie aus Schlesien evakuiert worden war. 

Die Hofaufsicht übergab er jetzt der Gründel-Tochter, der "Giehlermutter", wie sie die Kobelauer heute noch nennen. Bei ihr war immer Treffpunkt aller Altersklassen, vom Kind bis zu den älteren Frauen und Männern. In ihrem Stübchen sind viele Begebenheiten besprochen worden. Aus ihrer reichen Erfahrung, auch sie lebte schon über vier Jahrzehnte in Kobelau, mag sie manchen einen guten Rat erteilt haben. Sie wurde mit ihrer Tochter Emma auch nach Bayern evakuiert und feierte dieses Jahr ihren 80. Geburtstag in der Nähe von Pfaffenhofen/Ilm. Es war eine schwierige Aufgabe, die Mortimers Mutter ihm mit der Leitung übergab. Nur durch größte Sparsamkeit konnte der Besitz wieder rentabel werden. Durch die Rentenmarkumstellung und andere Schulden war das Gut überlastet. Die Gärtnerei sollte nichts kosten, sondern eine Einnahmequelle werden. Die Baumschule wurde vergrößert und jedes Jahr wurden viele Obstbäume aller Gattungen - auch Beerensträucher usw. - verkauft, gleichzeitig die eigenen Feldwege damit bepflanzt, um neuen Nachwuchs heranzuziehen. Der Gärtner Vogel hatte nicht nur in der näheren Umgebung seine Kunden, sondern auch im weiteren Kreis Frankenstein und darüber hinaus. Seine große Spezialität war die Rosenzucht. Es blühten im Sommer viele Hundert Rosenstöcke - ein wundervoller Anblick. Mit den Blüten konnten jeden Tag zahlreiche Vasen gefüllt werden. Besonders an den Geburtstagen war es eine Pracht, die zu den schönsten Erinnerungen gehören. Es würde zu weit führen, alle Einzelheiten anzuführen. Erdbeeren wurden körbeweise verkauft, abgesehen von den vielen Zentnern, die ins Haus kamen. Ebenso Pfirsiche. Allein im letzten Sommer, bevor die Russen kamen, waren es drei Zentner. In den Frühbeeten wurden alle Gemüsepflanzen selbst gezogen, nebenbei noch solche verkauft. Im Gedenken an den verstorbenen Gärtner Vogel soll hier noch erwähnt werden, daß sein unermüdlicher Fleiß und seine Tüchtigkeit dazu beigetragen haben, den Gartenetat auszubalancieren. 

Eine ganz besondere Freude bereitete Mortimer von Tschirschky die Beschäftigung mit dem Wald. Es war für ihn oft eine Erholung, hingehen zu können; im Winter, wenn das Brenn- und Schnittholz geschlagen wurde, im Frühjahr, wenn die Kahlschläge wieder bepflanzt wurden. Die dazu nötigen Lärchen, Buchen, Fichten und andere mehr wurden auch selbst herangezogen. So entfiel jeder Ankauf. Die schönen Lärchen an der Frankensteiner Chaussee, von seinem Vater gepflanzt, liebte er besonders. Ehe ein Baum im Walde gefällt wurde, gingen dem lange Beratungen mit dem Vorarbeiter Simon und unserem letzten Stellmacher Alfred Immig voraus. Für jeden der Beteiligten war es wie eine heilige Handlung, ehe der Beschluss gefasst war, ihn seiner Bestimmung zu übergeben. 

Für seine Person war Mortimer von Tschirschky sparsam und anspruchslos. Er gab selbst das beste Beispiel für alle Maßnahmen, die er in den Jahren durchführte. Sein einziger Luxus war ein kleiner Sportwagen (BMW), den er durch Freunde billig kaufen konnte. So manche Tour, die er immer sehr als Entspannung genoss, hat er in das Eulen- und Altvatergebirge und die Grafschaft Glatz gemacht. Eine besondere Freude war es für ihn, wenn seine Mutter ihn begleitete - sie war schon über 70 und hätte ohne Auto die schöne Landschaft nicht mehr sehen können. Gleich bei Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden beide Autos durch das Naziregime beschlagnahmt. Sehr betrübt mußte er seinen Wagen selbst zur Abgabestelle fahren. Als 1939 der Zweite Weltkrieg begann, mußte Mortimer von Tschirschky und Boegendorff zu seinem Regiment (Panzer Sagan), obwohl er daheim dringend benötigt wurde. Ebenso wurden vom Dominium die Wehrpflichtigen zum Militär eingezogen. Erneute Schwierigkeiten ergaben sich dadurch für das Gut. Immer mehr mußten die Frauen die Männer ersetzen. Seine Schwester, die bisher schon die Buchführung, Lohnauszahlung, Kassenabschlüsse und andere Pflichten hatte, mußte noch mehr übernehmen. Sie hat ihn schließlich während seiner Abwesenheit ganz vertreten. 

Kurze Urlaubstage, die für andere junge Menschen Erholung waren, wurden für ihn erneut zu Arbeitstagen. Oft bis in die Nacht hinein wurden genaue Anweisungen ausgearbeitet. Jeder erhielt seinen Plan, nach dem er sich während seiner Abwesenheit zu richten hatte. Für den Herbst waren es hauptsächlich Bestellungspläne; für den Winter die Waldarbeit; für das Frühjahr Ackerbearbeitung und Aussaat. 

Wieder sollte ein Krieg die friedliche Aufbauarbeit zerstören. Immer mehr eigene Arbeiter auf dem Dominium wurden zum Militär eingezogen. Es mußten als Ersatz Kriegsgefangene eingestellt werden. Die Verständigung zwischen den Einheimischen und den Ausländern war natürlich sehr schwierig. Erst waren es Franzosen, darunter ein Koch, ein Gärtner und ein Stellmacher. Wie sollten sie etwas von Landarbeit verstehen? Später kamen Polen, Russen, Ukrainer. Unter dem dauernden Wechsel der Landarbeiter mußte der Betrieb leiden, zumal die Leitung durch Mortimer von Tschirschky fehlte. Die Felder konnten nicht mehr so sachgemäß und sorgsam bestellt werden. In den letzten Jahren vor dem großen Zusammenbruch 1945 haben sich die Ukrainer am besten als Arbeiter bewährt. Sie kamen aus kleinen Betrieben, die man mit unseren Stellenbesitzern vergleichen könnte. Sie waren willig, tierliebend und pflegten das Vieh gut, auch die Frauen waren für jede Arbeit brauchbar. 1942 starb seine Schwester Dolly. Sie war die Lieblingsschwester aller Geschwister. Durch viele Jahre Leiden und Ertragen von Schmerzen trug sie ihr schweres Los trotzdem mit großer Geduld und mit immer heiterem Wesen, niemals klagend, immer hilfsbereit, freundlich und für jeden aufgeschlossen. Als im Frühjahr 1945 seine Mutter starb, die nach dem Tode des Vaters dreißig Jahre Besitzerin war, entstand eine große Leere dort, wo sie bisher Mittelpunkt war. 

Der enge Kontakt zwischen Besitzern und ihren Arbeitern war eine alte Tradition, die schon von den Vorfahren übernommen wurde. Die Bescherung zu Weihnachten für die Kinder, die Frauenabende im Winter, wo gestrickt und dabei vorgelesen wurde, gehörten zu Erinnerungen, wo mancher Kobelauer noch davon erzählen kann. 

Die letzten Monate des Jahres 1944 standen schon unter dem Eindruck der politischen und kriegerischen Ereignisse, die auch Schlesien bedrohten. Über die Kobelauer kam dann das gleiche Schicksal, wie es viele andere aus dem Osten erlebt haben. Sie mußten die Heimat verlassen und eine ungewisse Zukunft war ihr Los. Mortimer von Tschirschky blieb mit wenigen zurück. Sein Verantwortungsgefühl dem Besitz gegenüber war so groß, daß der Gedanke, freiwillig wegzugehen, ihn daran hinderte. So wurde sein Leben ein Opfer des verlorenen Krieges und des großen Zusammenbruchs in Deutschland. Im Juni 1945 durchzog eine russische Polizeistreife die Nachbardörfer und auch Kobelau. Es wurden Männer mitgeschleppt, die noch in den Dörfern zurückgeblieben waren. Später berichtete ein Nachbarbesitzer, daß sie alle in Heinrichau in einen Keller gesperrt wurden. Von dort ging es weiter in Richtung Grottkau. In vier Tagen marschierten sie bis Oppeln; dort wurden sie von den Russen sortiert. Die jüngeren Leute behielt der Russe, während die Älteren den Polen übergeben wurden. Von diesen wurden sie in einem Kellerraum eingesperrt. Nun kamen für alle schwere Tage: wenig zu essen, je Mahlzeit einen Teller Suppe aus Kartoffeln und Wasser und sehr viel Schläge. Nach ein paar Tagen hörte das Schlagen auf; es wurde verboten. Sie wurden zu allerhand Arbeiten herangezogen; sie mußten auch Kartoffeln schälen. Nach fünf Wochen war es Mortimer von Tschirschky gelungen zu fliehen, aber nach vier Tagen brachte man ihn wieder zurück. Die polnische Miliz hatte ihn angeschossen. 

Wie sein Kamerad aus Kaubitz berichtet, habe er selbst die Wunde gesehen. Der Oberschenkel in der Nähe der Bauchgegend war durchlöchert. Wie Mortimer von Tschirschky ihm erzählt hat, sei er durch die Oder geschwommen und schon 30 km von Oppeln entfernt gewesen. Bei einem Straßenübergang habe ihn die polnische Miliz erwischt und gleich geschossen. Er wurde nun ohne ärztliche Hilfe in eine Zelle allein eingesperrt. In diesem Zustand ohne Hilfe und Verband hat er noch zwei Wochen gelebt. 

Ein anderer Kamerad hat ihn dort noch gesehen und ihm auch geholfen, soweit dies überhaupt möglich war. Er hat noch über die letzten Tage berichtet, weiß aber nicht, wo er begraben ist. Das Lager war im Kulturamt in Oppeln, gegenüber der Petruskirche. 

Von Sybille von Tschirschky und Boegendorff